Kapitel 9 - Die Microtech-Affäre

Kapitel 9

Die Microtech-Affäre

Gegenwart, New Babbage, auf dem Planeten Microtech, Stanton. 

Es war bereits spät am Nachmittag. Ich saß in meinem Büro bei der Microtech Corporation in New Babbage und grübelte. Draußen pfiff ein starker Wind. Ein weiterer Schnee- und Graupelschauer kündigte sich an und das tiefe Blau des Himmels über Microtech veränderte sich langsam in ein graues Weiß. 

Mein Chef, ein Kerl namens Jonathan da Silva, Entwicklungsvorstand bei Microtech, hatte alles eingefädelt. Das Joint Venture mit Hurston Dynamics. Waffenfähige Chips! Angeblich sollten die zur Steuerung der automatischen Verteidigungsanlagen rund um die Data Center auf Microtech dienen. So zumindest hatte er die Story intern verkauft. Was er aber davon abgesehen wirklich trieb, war was ganz anderes!

Da Silva labelte die Chips nicht nur als die gewöhnlichen und völlig harmlosen Computerprozessoren um, die Microtech sowieso vertrieb, sondern hatte auch eine Reihe Unternehmen erfunden, die als fiktive und ordnungsgemäße Käufer dieser Prozessoren in den Büchern erschienen. Tatsächlich verkaufte er sie jedoch an illegale und kriminelle Organisationen, die wussten, was hinter dem falschen Label steckte und sonst was damit trieben. Und das, um nicht nur in die eigene Tasche zu wirtschaften, sondern wohl auch, um seine Umsätze damit so astronomisch zu steigern, dass der Aufsichtsrat bald gar nicht anders konnte, als ihn zum neuen CEO von Microtech zu machen. Und damit Jeff abzusägen. Zumindest, wenn nicht sogar noch viel mehr dahinter steckte. Mitglieder des Aufsichtsrats selbst dürften ebenfalls darin verwickelt sein und kräftig mitverdienen.


Wut stieg in mir auf. Sich selbst auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen, ist mir völlig zuwider. Mittlerweile hatte sich draußen der Schauer zu einem der typischen, kräftigen Eisstürme auf Microtech entwickelt. Wer sich dort jetzt noch ungeschützt bewegte, würde in wenigen Minuten erfroren sein. Die Temperatur dürfte unter -100 °C gefallen sein.


Ich bin dem ganzen Thema erst vor ein paar Monaten auf die Schliche gekommen. Ein langjähriger guter Stammkunde von Microtech hatte sich beschwert, dass seine gelieferten Chips nach Einbau in seine Produktionsanlagen überhaupt nicht funktionierten. Als Chef der Entwicklungsabteilung hatte ich mich einmal mehr selbst darum gekümmert, nachdem mich der zuständige Vertriebler bat, mir das mal anzusehen. 


Es stellte sich heraus, dass unser Kunde waffenfähige mTx.1-Prozessoren bekommen hatte! Die hatten überhaupt nichts im Versand zu suchen, sondern waren ausschließlich für den Einsatz in den Verteidigungsanlagen der Microtech-eigenen Datacenter bestimmt. Es gelang mir zum Glück, das Ganze intern und vor dem Kunden zu verbergen, seine Anlagen mit den richtigen Chips zu bestücken und damit den Reklamationsfall ad acta zu legen. Selbstverständlich ohne jeden Bericht darüber. Aber ich hatte Beweismaterial gesichert.

Somit war klar: Irgendwer verschickt waffenfähige mTx.1-Prozessoren. Das konnte kein Versehen sein! Schritt für Schritt, verfolgte ich die Spur, die schließlich zu da Silva führte und dort zu enden schien. Ein paar Mal wurde es ziemlich heiß und er hätte fast mitbekommen, dass ich an meinem eigenen Chef dran war. Letztlich gelang es mir aber, meine Untersuchungen geschickt vor ihm zu verdecken.


Natürlich hatte ich Jeff bei ihm zu Hause in New Babbage getroffen und ihm von der Geschichte erzählt. Er war außer sich. Wollte da Silva noch am gleichen Abend in hohem Bogen aus dem Konzern werfen. Mir war klar, dass Jeff von diesen kriminellen Machenschaften rein gar nichts wusste. Doch wer außer da Silva und von ganz oben steckte vielleicht noch mit dahinter?


Er hätte das niemals allein einfädeln können. Es musste Mitwisser und Hintermänner geben. Jeff war der Situation damit völlig ausgeliefert. Er konnte jetzt keinem in Vorstand und Aufsichtsrat mehr trauen, um den Fall in den eigenen Reihen zu klären. Denn diejenigen, die von ganz oben mit drin stecken, würden ihn beim kleinsten Anzeichen sofort ans Messer liefern, um sich selbst zu schützen. Als Microtech-CEO würde er allein zur Verantwortung gezogen und als Bauernopfer der vermutlich noch immer im Schatten hinter da Silva agierenden Drahtzieher Jahrzehnte in Klescher absitzen.


Jeff konnte also gar nicht anders, als erst einmal abzuwarten. Und vor allem dafür zu sorgen, dass ihm keine Daten oder Dokumente untergeschoben wurden, die seine Mitwisserschaft bewiesen hätten. Solange das nicht geschah, war er erstmal sicher.

Doch dann passierte der Gundo-Unfall. Was hatten waffenfähige mTx.1-Prozessoren auf einer Caterpillar bei Daymar zu suchen, die dann von Piraten überfallen wird, explodiert und dabei auch noch den Space Hub zerstört?


Den Transport hatte Jeff nicht autorisiert, im Gegenteil, er wusste nicht mal was davon. Als er deswegen unmittelbar nach der Katastrophe eine Dringlichkeitssitzung von Vorstand und Aufsichtsrat einberief und die Frage danach stellte, war der Versandchef bereits abgemahnt worden.

Und ausgerechnet da Silva hatte angeblich aufgeklärt, auf der Sitzung vorgetragen und aufgezeigt, dass es im Versand zu diesem Fehler kam und die falschen Chips auf der Caterpillar unterwegs waren. Wie konnte das sein? Für solch interne Aufklärungen war er gar nicht zuständig. Dafür gab es nur eine Erklärung: da Silva fungierte als Marionette, die man nicht nur voraus schickte, sondern auch schützte.

Jeff hatte dann entschieden, dass Thane McMarshall, ein loyaler Mann und Chef der Schadensregulierung der Sache nachgehen und mit den Piraten Kontakt aufnehmen sollte, um die gestohlenen Chips gegen Lösegeld wiederzubeschaffen. Was nicht gelang, da sowohl Chips als auch Piraten bei Levski schließlich in Flammen aufgingen. War das etwa Absicht? Denn damit konnte schließlich auch nicht geklärt werden, ob die Piraten eigentlich wussten, was genau sie da gestohlen hatten.


Ich erinnerte mich gut an unser letztes Gespräch. Jeff war deutlich anzumerken, dass die ganze mTx.1-Geschichte verständlicherweise mächtig in ihm wühlte. Gleichzeitig wühlte auch der bereits öffentlich bekannte Gundo-Vorfall in ihm, für den er als CEO in jedem Fall die Verantwortung zu tragen hatte. Und am meisten wühlte in ihm, dass beides nun auch noch miteinander in Verbindung stand.


Da saß ich also nun in meinem Büro. Draußen tobte weiterhin der Sturm und die große Glasfront war von außen inzwischen vollkommen vereist. Der Wind war so stark, dass sich die Scheiben erkennbar immer wieder unter seinem Druck leicht verformten. Dabei knisterte das darauf haftende Eis, zerbrach an manchen Stellen und fiel in Stücken außen herab. Ich fühlte mich unbehaglich. Obgleich ich es besser wusste, war ich nicht so sicher, dass die Scheiben den auf sie wirkenden Kräften auch tatsächlich standhalten würden. Trotz der laufenden Klimatisierung, die die Büros hier konstant auf 22 °C halten, fröstelte ich daher beim Anblick dessen.


Was tun? Ich fokussierte meine Gedanken wieder auf die gegenwärtige Situation. Wie konnte ich meinem Jugendfreund Jeff helfen? Ich fühlte mich ihm gegenüber sehr verpflichtet. War es doch Jeff, der mich nach dem verheerenden Angriff der Vanduul auf Vega und der Zerstörung von allem, was ich bis dahin gemeinsam mit meiner Familie und meiner geliebten Evey aufgebaut hatte, zu Microtech nach Stanton geholt hatte. Um wieder Fuß zu fassen.

Evey, ich vermisste sie so sehr. Einen Moment lang blieben meine Gedanken bei ihr. Wie ich sie im Sommer 38 bei der Navy in New Corvo kennenlernte. An dem Tag, an dem wir stundenlang zusammen im Simulator trainierten. Und sie schließlich in einem verrückten Flugmanöver mit mir ihren ersten Vanduul abgeschossen hat. Schon da hatte sie mir blind vertraut. Und ich war sicher, dass sie auch jetzt darauf vertraute, dass ich alles unternehmen würde, um sie wiederzufinden.

Sieben glückliche Jahre hatten wir, bevor 2945 die Vanduul alles zu Nichte machten. Das ist jetzt schon fünf Jahre her. Ich hatte bereits viel früher aufbrechen wollen, um sie zu suchen. Dank Jeff und meiner Tätigkeit als Entwicklungschef von Microtech, der alten Prospector aus Evey’s und meinen Anfängen und einigen getätigten Anschaffungen hatte ich inzwischen eine gute Chance, mich auch ohne festen Job über Wasser zu halten. Doch die Geschehnisse um den mTx.1 und meine Verpflichtung Jeff gegenüber hatten mich bisher davon abgehalten.


"Ich muss Evey finden und Jeff helfen." An meinem Schreibtisch grübelnd, brach draußen eine weitere Eisplatte vom Fenster ab. Dann kam ein Gedanke. Anstelle immer beides getrennt voneinander zu betrachten, ließ es sich doch miteinander verbinden. Es gab möglicherweise eine Schlüsselperson bei der Suche nach Evey. Jemand der auch Jeff helfen könnte. Vorausgesetzt er spielt mit. Der Gedanke fühlte sich richtig an. Mein Herz klopfte plötzlich vor Aufregung. Ich spürte das Klopfen bis in den Kopf. Wie Puzzleteile, die sich ganz von selbst fügen, entstand plötzlich ein Bild vor Augen. Ein Plan von dem, was ich jetzt zu tun hatte.


Ich rief Jeff über Mobiglass an. Ohne ihn ging es nicht. Trotz unserer langjährigen Freundschaft würde er mich förmlich umbringen, wenn ich ohne sein Wissen etwas unternähme, das Microtech auch nur einen Hauch schaden könnte. Das Risiko bestand, aber es gab nur diesen einen Weg, meinen Freund vor dem Galgen zu retten. Und dabei vielleicht auch Spuren von Evey zu finden. Davon war ich nun überzeugt und jedenfalls war das jetzt meine allergrößte Hoffnung.


„Chhris, schön dass Du Dich meldest. Hast mich gerade aus einer Sitzung geholt, aber für Dich gehe ich ja immer gern ran.“ Jeff wirkte gehetzt, doch zum Ende seines Satzes wurde seine Stimme ruhiger und tiefer. Mein Anruf war eine willkommene Unterbrechung. „Hallo Jeff, danke für Deine Zeit. Können wir uns später noch bei Dir daheim treffen?“ „Klar. Ich treffe mich immer gern mit meinem Entwicklungschef. Gibt’s was Neues zum IcePick II? “ „Ich würde gern etwas Persönliches mit Dir besprechen, Jeff. Es wird auch nicht lang dauern. Und dem IcePick II geht’s gut. Liegt voll im Plan.“ „Muss ich mir Sorgen machen?“ „Nicht mehr als sonst auch, Jeff“ entgegnete ich mit einigem Lächeln. Das tat ihm gut.

Draußen wurden die Schatten der hohen Gebäude immer länger, der Eissturm hatte sich so schnell gelegt, wie er gekommen war. Bald würde die Dämmerung herein brechen und eine klare kalte Nacht stand bevor. Zeit mein Büro noch einmal aufzuräumen. Es würde wohl das letzte Mal sein. Und danach die dicke Jacke an, auf zum Shuttle und ab nach Haus. Ich hatte noch ein Gespräch mit einem guten alten Freund vorzubereiten.


„Es ist also der Zeitpunkt gekommen, dass Du Dich wieder voll und ganz auf die Suche nach Evey konzentrieren möchtest?“ fragte Jeff und nahm einen Schluck vom Radegast, den ich ihm mitgebracht hatte. Wir saßen zusammen in seinem Appartement hoch über den Dächern von New Babbage.


„Ja Jeff, es ist höchste Zeit für mich. Aber ich gehe nicht, ohne mich bei Dir zu bedanken.“ Jeff lächelte. „Und wofür?“ „Dafür, dass Du mich von Vega II hierher und zu Microtech geholt hast, natürlich. Nur dadurch bin ich jetzt soweit, mich über Wasser halten und Evey endlich wiederfinden zu können.“ „Gern geschehen, alter Freund. Und ich wünschte selbst nichts mehr, als Evey …“ Jeff seufzte. „… als Evey noch einmal wiederzusehen.“ „Du glaubst nicht, dass sie noch lebt, nicht wahr?“ Jeff sah mich traurig an. „Ich weiß es nicht, Chhris. Aber ich wünsche Dir sehr, dass sie noch irgendwo da draußen steckt.“


Ich sah aus den großen Apartmentfenstern in die klare Nacht über Microtech. Weit oben war Port Tressler zu sehen und über den Bergen des New Babbage SpacePort zog gerade der Eismond Calliope herauf. Der Nachthimmel dazwischen war übersät mit den Sternen der zahllosen näheren und weiter entfernten Systeme. Ich zeigte gen Himmel. Blind. Und als wir hinsahen, wohin mein Finger wies, so war es die Vega. Mein Heimatstern. Ich wusste immer ganz genau, wo sie stand. Obwohl ich mich selbst in einer Prospector verlaufen hätte.

 „Weißt Du, Jeff, ich kann es nicht erklären, aber ich fühle, dass Evey da draußen ist. Diesem Gefühl muss ich jetzt folgen. Ich glaube einfach daran, dass es mich zu ihr bringt.“ Jeff nickte. „Ich verstehe das, auch wenn ich Dich nicht gern gehen lasse. Du bist schließlich mein bester Entwicklungs-leiter im Konzern.“ Ich musste schmunzeln.

„Es gibt genug andere, Jeff. Und sicher viele bessere.“ Seine Anerkennung tat gut. Zwinkernd stieß ich mit ihm an.


Wir saßen eine Moment schweigend da, dann fühlte ich den Moment gekommen. „Ich weiß, es sind nicht die besten Zeiten, in denen ich Microtech verlasse. Wirst Du klar kommen?“ fragte ich. „Du meinst Gundo? Darum mach‘ Dir keine Sorgen.“ antwortete Jeff. „Wir können in der Öffentlichkeit belegen, dass unser Schiff von Piraten überfallen wurde. Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass es dadurch zur Explosion gekommen ist. Dass diese Explosion auch Gundo mit zerstört hat und dadurch weitere Menschen zu Schaden kamen, ist äußerst tragisch, aber Microtech trägt keine Schuld daran.“ 


Obwohl ich mit meiner Frage nicht den Gundo-Vorfall meinte, hörte ich Jeff zu als er fortfuhr. „Zwar wissen wir nicht, wer genau es war. Welche Einzelpersonen oder Organisationen dahinter stecken. Aber klar ist: letztlich tragen nur sie allein die Verantwortung. Somit wird Microtech unbeschadet aus der Katastrophe hervorgehen.“ „Es beruhigt mich zu sehen, dass Du Dir in dieser Sache keine Sorgen machst.“ „Im Gegenteil, Chhris. Sieh‘ mal, mein aufrichtiges Mitgefühl gilt den unschuldig Betroffenen. Deswegen habe ich entschieden, dass sich Microtech gemeinsam mit Covalex nicht nur um diese Menschen kümmern, sondern auch Gundo wieder in Stand setzen lassen wird. Das sollte uns auch positive Resonanz in der Öffentlichkeit bringen und mich als CEO von Microtech nicht in Frage stellen“.

Dem stimmte ich unumwunden zu. „Und die andere Sache, Jeff?“ „da Silva?“ Er seufzte. „Intern gilt die Angelegenheit als abgeschlossen. Fehllieferung.“ „Ich weiß. Und wenn Du dennoch gegen ihn vorgehst, werden Dich seine vermeintlichen Hintermänner ans Messer liefern.“ Jeff sah mich mit traurigem Blick. „Mein Schicksal ist das eine, Chhris. Aber hier geht es um das Überleben des ganzen Konzerns. Wenn ich das sicherstellen könnte, würde ich mich freiwillig opfern.“ „So ein Unsinn.“ Ich fuhr Jeff geradezu an. „Diese Leute werden doch Wege finden, ihre Waffenschiebereien auch und gerade ohne Dich weiter zu treiben.“ Jeff senkte den Kopf. „Ja, Du hast ja Recht.“ sagte er leise. Es tat mir weh, ihn so zu sehen.


„Jetzt pass mal auf, alter Freund.“ Eher schwermütig richtete sich Jeff wieder auf und blickte mich an. Über seinem Gesichtsausdruck lag der Schimmer einer Ahnung, dass die Lage vielleicht doch nicht so aussichtslos war, wie es schien. „Jeff … von innerhalb Microtech ist das Problem gar nicht zu lösen. Wir müssen unbekannte Beteiligte mit gegenseitigen Abhängigkeiten annehmen, die wir bis auf da Silva im Moment gar nicht kennen, richtig?“ Ich blickte Jeff an. Er nickte stumm.


„Du glaubst an die Mathematik, also lass es mich mathematisch sagen: Es ist wie Gleichungen mit Variablen, Jeff. Solange es einerseits mehr Variablen als Gleichungen gibt und andererseits Variable darin, die wir gar nicht als solche erkennen, ist das Gleichungssystem nicht zu lösen. Genauer gesagt, es gibt unendlich viele Lösungen, von denen wahrscheinlich unendlich minus eine Lösung für Dich nicht gut ausgehen …“ Mein Freund sah mich entgeistert an. Ich hingegen konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und fuhr fort.


„Dein Ansatz, eine Variable aus dem Gleichungssystem zu eliminieren, also da Silva aus dem Konzern zu werfen, wäre die richtige Vorgehensweise gewesen, wenn Du die anderen Variablen bereits kennen würdest. Das ist aber nicht der Fall.“ Er hörte mir aufmerksam zu. „Was also macht man mit solchen Gleichungssystemen, die erfordern, dass man zuerst einmal heraus findet, welche Variablen es überhaupt gibt, damit man sie dann der Reihe nach eliminieren kann?“ fragte ich. „Du warst zwar in Mathe nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, Jeff, aber erinnere Dich mal.“


„Man führt Störparameter ein und versucht, das Gleichungssystem von außen zu beeinflussen. Trifft der Störparameter eine Variable, reagiert das System, die Variable als solche gibt sich zu erkennen.“ erwiderte er plötzlich mit großen Augen. Er schien zu verstehen. „Ganz genau. Und auch die anderen Variablen müssen sich verändern, damit das Gleichungssystem nicht aus den Fugen gerät. In unserem Fall die Hintermänner, die auf die Störung irgendwie reagieren müssen, wenn es sie denn wirklich gibt. Dadurch wird es wahrscheinlich, dass wir sie ebenfalls erkennen.

„Ich glaube, ich verstehe was Du meinst, Chhris. Man muss zunächst mal den Druck auf da Silva erhöhen. Das geht nur von außerhalb Microtech, weil er im Konzern beschützt wird. Zwar dürften die Empfänger der bei Gundo hochgegangenen Lieferung inzwischen stocksauer sein, zumindest, wenn noch keine Ersatzlieferung erfolgt ist, was wir mit einiger Sicherheit annehmen können ...“ „Weil Du nach Gundo schnell dafür gesorgt, dass kein mTx.1-Prozessor das Zentrallager in New Babbage ohne Deine Autorisierung jemals wieder verlassen kann.“ „Aber es wird mehr als das brauchen, um da Silva aus der Bahn zu werfen ...“


„Mensch, Chhris ...“ Meinen Jugendfreund überfiel die gleiche Art von positiver Aufregung, wie ich sie noch vorhin selbst im Büro gespürt hatte. Wir stießen erst einmal an. Ein weiterer Schluck Radegast gesellte sich zu den vorherigen, eine kleine Atempause, in der wir den Moment genießen wollten. Das Gefühl, einen guten und Erfolg versprechenden Ansatz zur Lösung des Problems gefunden zu haben. Ich war sicher, den hatten wir. Denn es war das gleiche Gefühl, wie beim Rechnen mit komplexen Gleichungen, wenn man der Lösung auf der Spur war. Dadurch würde sich die Zukunft für uns beide zum Besseren wenden. Und auch Jeff‘s Haltung, sein Gesichtsausdruck, verriet nicht anderes.


„Ich hätte Dich niemals darum gebeten, dass Du ...“ „Jeff, Freunde lassen einander niemals im Stich. Wir haben uns das dort gegenseitig damals geschworen.“ Mein Arm zeigte wieder ohne hinzusehen auf die Vega. „Und für mich gilt das ebenso selbstverständlich, wie es für Dich vor fünf Jahren schon gegolten hat. Und deswegen habe ich mir einen Plan überlegt, wie jetzt vorzugehen ist.“ Jeff nickte erwartungsvoll.


„Also pass auf, ich verlasse Microtech wegen der Suche nach Evey und meiner Familie. Das sollte die offizielle Erklärung im Konzern sein. Stimmt ja auch, ist aber eben nur der eine Teil. Inoffiziell schlage ich vor, Du gibst mir den Auftrag, dem Verdacht gegen da Silva und Komplizen von außerhalb Microtech nachzugehen. Das gibt Dir als CEO erstmal ausreichend Rückendeckung falls was schief geht und bis wir alle identifiziert und genügend juristisch haltbare Beweise haben, mit denen Du dann die Sache bei den Behörden zur Anzeige bringen kannst. So kommst Du als CEO Deiner rechtlichen Verantwortung nach und letztlich auch aus der Verantwortung für die Waffenschieberei. Schließlich bist Du daran nicht beteiligt. Du musst bis es soweit ist nur aufpassen, dass Dir keine falschen Dokumente untergeschoben werden.“ Jeff nickte und das bedeutete nichts anderes, als sein Einverständnis zu diesem Plan.

„Und wie genau willst Du jetzt weiter vorgehen?“ „Ein Reporter hat kürzlich mein Interesse geweckt, Jeff, der vom Interview mit Thane über Gundo.“ Ich recherchierte rasch auf meinem Mobiglass. Da war‘s. Und wir hatten einen Namen und ein Gesicht: John Brubacker. „Er könnte der Richtige sein, um da Silva gezielt auf’s Korn zu nehmen, ausgestattet mit Deinen Informationen und Beweisen. Beim Studium seiner Reportage fiel mir gleich auf, dass er einen gehörigen Biss mitbringt, den Dingen auf den Grund zu gehen.“ antwortete Jeff. „Und nachdem Thane ihn ziemlich kalt hat stehen lassen, wird er sicher noch nicht locker lassen wollen.“

„In der Tat und möglicherweise hat er sich damit schon selbst in Gefahr gebracht“ überlegte ich. „Aber wie dem auch sei, die Kunst wird es sein, ihn davon zu überzeugen, nicht gleich den ganzen Konzern aufs Korn zu nehmen, sondern eben nur gezielt gegen diejenigen vorzugehen, die Dich hintergangen haben.“ „Brubacker wird kaum irgendwelche Stories über Microtech in die Welt setzen, für die er keine stichhaltigen Beweise vorlegen kann. Seine juristische Rückendeckung als Einzelperson ist der unseres Konzerns weit unterlegen. Ich bin sicher, dass er sich dessen völlig klar ist“ erwiderte Jeff. „Und außerdem Chhris, ich halte Deine Idee, gerade ihn ins Vertrauen zu ziehen für ... sagen wir mal ... sehr elegant. Denn für da Silva samt Hintermännern und auch für die Öffentlichkeit ist es doch nur logisch, dass Brubacker an der Story dranbleibt. So bleiben wir jetzt im Hintergrund verborgen.“ Jeff grinste und ergänzte: „ ... als versteckte Variable im System.“


Ich musste lächeln. Darüber hatte ich noch gar nicht so genau nachgedacht. Eher, dass Brubacker als Journalist nicht nur in Stanton über ein sehr gutes Netzwerk verfügen dürfte. Der Mann könnte möglicherweise bei der Suche nach Evey helfen.“ So hoffte ich jedenfalls. Jeff nickte. Damit kam unser Gespräch zum Ende und auch mein Job als Entwicklungsleiter bei Microtech.


Wir tranken noch einen Schluck zusammen, dann war es an der Zeit für mich, aufzubrechen. „Halt‘ den Kontakt zu mir Chhris. Und nimm‘ Dir in den nächsten Tagen noch eine 600i mit, ich lasse sie auf Dich überschreiben. Du wirst sie brauchen. Und verdient hast Du sie Dir sowieso.“ „Danke Jeff.“ sagte ich mit einiger Überraschung. Damit hatte ich nicht gerechnet. „Und bis Du sie hast, kannst Du Dir auch die 890 ausleihen. Auch Deine Zugangscodes zu Microtech lassen wir am besten aktiv geschaltet, ok?“ „Jeff …“


Jetzt war ich doch sprachlos. Und meinem Freund sehr dankbar. Ich konnte seine Unterstützung bei dem, was vor mir lag, nur zu gut gebrauchen. Wir verabschiedeten uns mit einer festen Umarmung. Dann verließ ich Jeff‘s Apartment und fuhr mit dem Lift zum Dach. Draußen war es trotz Windstille bitterkalt und beinahe schon Mitternacht. New Babbage lag hier oben in seiner ganzen schneebedeckten und erleuchteten Schönheit vor mir. Wehmut stieg in mir auf. Diese Stadt war nun die längste Zeit meine neue Heimat gewesen.


Dann kam das Shuttle. Ein letztes Mal zu mir nach Hause. Zur Sicherheit musste ich auch mein eigenes Apartment aufgeben. Die gute, alte Prospector, meine „Evey“, würde nun mein neues zuhause sein. Und zwischendurch die Habs der Orbitalstationen. Möglichst versteckt, mit voller Konzentration auf Brubacker. Und ich hatte auch schon eine Idee, wie ich an ihn rankommen würde…

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