Kapitel 1 - Evey

Kapitel 1

Evey

Sommer 2938, New Corvo, Aremis, Vega. UEE Navy Ausbildungszentrum. 

„Evey, abschütteln. Brich‘ rechts weg. Dann nehmen wir sie uns vor, ok? Auf drei. Over!“ „Echt? Ok, roger!“ In dieser Situation unsere Formation zu brechen, kommt mir riskant vor. Wir fliegen in einer Zweierstaffel, haben zwei Vanduuls am Heck und Chhris ist der Lead Pilot. „Evey, 3..2..1 … Jetzt!“ Ich vertraue ihm, fliege in eine scharfe Rechtskurve und werde sofort extrem in meinen Pilotensitz gedrückt. Mir stockt der Atem. Was für g-Kräfte. Und selbst jetzt noch klebt mein Verfolger mit unablässigem Heckfeuer an mir.     


„Chhris? Wie geht’s jetzt weiter?“ Die Worte auszusprechen fällt mir bei dieser Belastung schwer. Ein Kichern ertönt über Funk. „Wusst‘ ich’s doch. Sie brechen ihre Formation und folgen uns einzeln. In einer Minute haben wir sie, Evey.“ „Und wie genau stellst Du Dir das vor?“ „Sorry, ich hätte Dir den Plan erst erklären sollen." Chhris spricht ebenfalls angestrengt, mit kurzem Atem. "Flieg Deine Kurve 180° scharf, dann hast Du mich und meinen Verfolger gleich so gut wie direkt auf 12 Uhr. Und ich Dich und Deinen auch. Ist fast wie eine Acht, die wir zusammen fliegen, ok? Und keine Sorge, ich hab‘ Dich auf dem Radar fest im Blick!“ Ich blicke auf meines: Chhris fliegt eine enge Linkskurve. Auch er steht weiter mächtig unter Beschuss. 


„Ja und dann?“ „Wenn Du die Kurve gleich durch hast und ich das Signal gebe, strafest Du links und ich rechts, so dass wir uns nicht gegenseitig abschießen. Und dann Feuer frei, direkt auf die 12. Aber verwechsle links und rechts bitte nicht!“ Ein neuerliches Kichern ertönt aus dem Funk. Ich nehm’s ihm nicht übel, ganz im Gegenteil. Ich mag kleine Frotzeleien. „Kapiert, roger“ höre ich mich sagen. Obwohl ich nicht wirklich sicher bin, dass funktioniert, was er da vorhat. „Noch ein Tipp, Evey, nimm‘ die Seitenschilde auf die Front, für alle Fälle.“ Dafür bleibt mir keine Zeit mehr, schon ist die Kurve durch, aber danke für den Tipp. Jetzt fühl ich mich noch unwohler: Chhris und ich rasen mit irre hoher Geschwindigkeit aufeinander zu, jeder mit einem Vanduul am Heck. Um mich herum peitschen die Laserschüsse. Feuer von hinten und von seinem Verfolger jetzt auch noch von vorn. Ich rolle die Maschine unablässig, ziehe permanent leicht links und rechts, um dem Ganzen auszuweichen. Irre, das kann nicht lang gut gehen, auch wenn die Schilde im Moment noch gut mithalten.  


„Du machst das super, ganz cool! Strafe links, jetzt!“ Ich strafe links und schon schlägt Chhris‘ Feuer hinter mir in meinem Verfolger ein. Ich kann die Druckwelle der Explosion von hinten spüren, während er direkt vor mir nun das Schussfeld auf seinen Verfolger freigibt. „Feuer frei, Evey!“ Und ich feuere aus allen Rohren. Ein bläulicher Explosionsblitz und schon rase ich an meinem Partner und den Überresten einer Vanduul Glaive vorbei.


Ich geh‘ vom Gas und bremse die Gladius langsam ab. Atme einmal tief durch. Dann noch einmal. „Donnerwetter“ murmele ich vor mich hin. Das hätte ich nicht gedacht. Was für eine Anspannung. Und jetzt Erleichterung. Ein Gefühl des Erfolges, des Sieges stellt sich ein. Und Stolz. Fühlt sich gut an, sehr gut sogar! Das war der erste Vanduul-Abschuss in meiner jungen Karriere als Pilotin.


„Chhris, das nächste Mal wär‘ ganz gut, wenn ich vorher wüsste, was Du vorhast, ok?“ Wieder ein Lachen. „Das weiß ich doch vorher meist selbst nicht, Evey, hehe, over and out“. Wir sitzen noch im Cockpit unserer Flugsimulatoren, als sich unsere Ausbilderin über COM lautstark meldet. „Pilot-Recruits Miller und Ghora, Programm beenden und sofort zu mir!“ Das klingt nicht gut. Ich steige aus und nehme draußen neben Chhris, der schon dasteht, Haltung an.

„Miller, zur Hölle, was an dem Befehl ‚defensives Flugverhalten‘ haben Sie nicht verstanden?“ „Ma‘am, wenn Sie erlauben. Wir haben die Befehle befolgt und sind alle geforderten Defensivmanöver geflogen.“ „Ja, das habe ich gesehen, Recruit. Sie hatten aber keinen Angriffsbefehl. Also, was sollte das?“


„Ma’am, ich sah eine Chance.“ Chhris Ausdruck wird ernst. „Ich sah eine Chance, den Feind zu besiegen, anstelle davon zu laufen“. „Mit ihrer Erlaubnis, ich nahm an, dass ich diese Entscheidung im Kampf selbst treffen dürfe, Ma’am.“

Captain MacLaren zieht eine Augenbraue hoch. „Ich muss sagen, das haben Sie sehr gut gemacht, Recruit. Denn nichts anderes erwarten wir von Ihnen. Sie selbst treffen als Staffelführer die Entscheidungen im Kampf. Genau so, wie sie es in der Übung gemacht haben. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass sie schon so weit sind.“ Chhris regt sich nicht. „Aber sie übernehmen auch die Verantwortung dafür“ fuhr MacLaren fort. „Wäre das schief gegangen, läge der Verlust jetzt für alle Zeiten auf Ihren Schultern. Das sollte Ihnen ganz klar sein.“ Er nickt zustimmend.

MacLaren wendet Ihren Blick nun mir zu. „Respekt, Ghora. Kaum drei Wochen in der Ausbildung und schon im ersten Staffeltraining mit Feindbeteiligung einen Vanduul abgeschossen. Sie haben wohl großes Talent.“ Ich versuche, mein stolzes Lächeln zu verbergen. „Ma’am, vielen Dank, Ma’am“. „Und jetzt, wegtreten!“. Wir salutieren, kehrt Marsch, der Feierabend ruft.

„Noch eines Miller“. Wir drehen uns um und nehmen erneut Haltung an. „Stehen Sie bequem Recruits.“ Der Captain sieht Chhris mit eindringlicher Mine an. „Arbeiten sie an der Kommunikation mit ihrer Staffelpartnerin, Miller. Lassen Sie sie niemals im Unklaren darüber, was sie tun. Ihr Schicksal liegt ab jetzt in Ihren Händen, verstanden?“ „Und jetzt endgültig wegtreten, machen Sie sich einen schönen Feierabend und bis morgen Null sechshundert.“ „Yes, Ma’am, gleichfalls und danke Ma’am“.


Wir stehen noch einen Moment beisammen und sehen dem Captain hinterher. MacLaren nimmt die Lead-Piloten wohl ziemlich hart ran, denke ich bei mir und schaue zu Chhris, der ihr noch immer hinterher blickt. Mit ernster Miene, er scheint nachdenklich zu sein. Dann schaut er zu mir herüber, sein Ausdruck verändert sich, er lächelt mich an und sieht mir in die Augen. „Evey?“ Mein Puls geht hoch. Er sieht verteufelt gut aus. Es ist etwas anderes, mit ihm den ganzen Tag über COM zu sprechen, als ihm jetzt gegenüber zu stehen und in die Augen zu sehen.


Ich weiß kaum etwas über ihn, außer dass wir vor drei Wochen gemeinsam in die UEE Navy hier auf Aremis im Ausbildungszentrum von New Corvo eingetreten sind, um die Pilotenausbildung zu beginnen. Anfangs fand nur eine kurze allgemeine Vorstellungsrunde statt und bis auf ein paar „Guten Morgen“ und „Guten Abend“, die wir uns aus Höflichkeit einander zugeworfen hatten, gab es bisher kaum Kontakt zwischen uns. Bis wir heute Morgen im Training zusammen zur Staffel eingeteilt wurden. Wir haben den ganzen Tag verschiedene Übungen im Simulator machen müssen und sind sehr gut miteinander klar gekommen. Ich habe bemerkt, dass Chhris auf jeden Fall irgendeine fliegerische Vorgeschichte hat, denn er hat die Übungen mit links gemeistert und half mir sehr bei meinem Part. Ich mag seine Art, er scheint irgendwie genau zu wissen, was auf uns zukommt und was wir zu tun haben. Vielleicht nimmt MacLaren ihn deshalb so ran. Jedenfalls gibt mir das einiges an Sicherheit und Zutrauen. Und wenn wir weiter gut miteinander auskommen, dann würden wir ab jetzt auch in der weiteren Ausbildung als Staffel zusammen fliegen. Und der Gedanke gefällt mir.

„Evey?“ Ich spüre Interesse an meinem neuen Partner und frage mich, woher er wohl kommt, was ist seine Geschichte, was sein Hintergrund? Was sind seine Vorhaben? Wer ist Chhris Miller, der auf den ersten Eindruck ziemlich selbstbewusst und sicher daher kommt, so dass er im Flugunterricht manchmal fast schon wie ein Draufgänger wirkt, dann aber, wie eben gegenüber Captain MacLaren, zu erkennen gibt, dass er sehr wohl äußerst überlegt und verantwortlich handelt? Hat er mich nicht eben noch im Simulator zuerst wegstrafen lassen und damit sowohl Heck- wie auch gefährliches Frontalfeuer gleichzeitig auf sich selbst gezogen?

Er hätte zu seinem Vorteil auch selbst zuerst strafen können, um sich zu schonen und mich der Gefahr auszusetzen, doch das tat er nicht. Und bilde ich mir das jetzt nur ein oder war es vorhin Zufall? Und ich frage mich, weshalb er schon so viel besser fliegen kann, als die meisten anderen Rekruten, weshalb er in den Trainingsstaffeln in der Regel die Rolle des Lead-Piloten bekommt.


„Evey?“ Chhris legt seine Hand auf meine Schulter. Ich bin plötzlich wie elektrisiert. „Hey, Evey, wo bist Du in Deinen Gedanken, alles in Ordnung?“ Chhris sieht mir fragend noch tiefer in die Augen. Ich räuspere mich. „Entschuldige Chhris, ich war einen Moment abgelenkt. Unser Abenteuer mit den Vanduul im Simulator heute war sehr aufregend für mich. Alles ok, was gibt’s?“ entgegne ich und muss mir eingestehen, dass da gerade irgendwie mehr ist, als nur Neugier und Interesse.


„Ich glaube ich muss mich bei Dir für vorhin entschuldigen. MacLaren hat vollkommen Recht. Ich hätte Dir erstmal meine Idee erklären sollen und auch, ob Du Dich für ein solch heikles Manöver schon bereit fühlst. Das war ziemlich egoistisch von mir.“ „Stimmt“ entgegne ich trocken und blinzele ihm zu. „Aber ich habe dadurch gelernt, dass ich mich im Kampf auf Deine Entscheidungen verlassen kann.“ Seine Hand liegt noch immer auf meiner Schulter und es fühlt sich gut an.


„MacLaren nannte Dich vorhin meine Staffelpartnerin. Ich fände es sehr schön, wenn sie uns in Zukunft miteinander fliegen lassen, weißt Du? Also, ich meine natürlich nur, wenn Du Dir das auch vorstellen kannst.“ Kann ich. Ehrlich gesagt wünsche ich mir das in diesem Moment sogar, doch ich beschließe, mich nicht zu erkennen zu geben, jedenfalls jetzt noch nicht. Mein Lächeln verrät mich wohl sowieso und sicher hat Chhris längst bemerkt, dass ich gerade unter erhöhtem Herzklopfen leide.


Er erwartet anscheinend keine Antwort und fährt fort: „Und wir sollen ja auch an unserer Kommunikation arbeiten, also vor allem ich, meinte der Captain und weißt Du, ich finde, also dazu hilft es ja …“ „Ja, Chhris?“ Ich muss lachen. Und er auch, wohl eher aus Verlegenheit. „Ja also jedenfalls dachte ich, dass es vielleicht gut wäre, wenn wir uns dazu etwas besser kennen lernen. Und außerdem habe ich ja etwas wieder gut zu machen.“ „Jetzt sag schon, Chhris“ entgegne ich. „Was ist Dein Vorschlag? Ich platze ja gleich vor Neugier“.

Er räuspert sich und sieht mir wieder in die Augen. „Evey, hättest Du vielleicht Lust am Wochenende mit auf's Land zu fahren? Ich würde gern meine Eltern auf der Farm daheim besuchen und Dich einladen. Es ist wirklich sehr schön dort. Und ich würde Ihnen auch gern meine neue Staffel-partnerin vorstellen. Was meinst Du? Also nur, wenn Du nichts anderes vorhast und …“

„Chhris Stopp.“ Ich baue absichtlich eine kleine Pause ein. „Roger, over!“ Er sieht mich mit seinen großen blauen Augen überrascht an. Damit hat er nicht gerechnet! Wir müssen beide ziemlich lachen. Das Eis ist gebrochen. Und während wir uns langsam beruhigen, nimmt Chhris mich in seine Arme. Er drückt mich fest und ich genieße diese Umarmung sehr. An diesen Moment möchte ich mich immer erinnern. Mein Gefühl sagt mir: dies ist der Beginn einer wunderschönen Zeit voller gemeinsamer Abenteuer. Sorgen um die Zukunft mache ich mir keine. Wen interessieren schon die Vanduul im Nachbarsystem ...

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